Rolfing® and Musiker*innen von Jörg Ahrend-Löns

Seit vielen Jahren ist es mir immer wieder eine besondere Freude, mit Musiker*Innen zu arbeiten. Als Mitglied eines Vokalensembles verbindet sich mein berufliches Interesse an den spezifischen Herausforderungen des Musikerberufes mit meiner persönlichen Freude am Musizieren.

Das Erstaunliche hierbei ist für mich, wie viele „Parallelen“ Musik und Rolfing® aufweisen.

Ein Beispiel ist vielleicht der Zusammenhang von Klang und „innerem Raum“ für Sänger*Innen: Zu viel Spannung (faszial und/oder muskulär) im Halsbereich verengt diesen Resonanzraum und beeinflusst den Klang. Als Rolfer*Innen® sind wir bestrebt, Spannungen zu regulieren und Räume zu erweitern. Peter Melchior hat die Verbindung von SI und künstlerischer Arbeit während meiner Ausbildung sinngemäß so beschrieben: „Wir Rolfer*Innen® sind Kunsthandwerker am lebenden Körper.“

Oft – eigentlich immer – können die Musiker*Innen den „Klang von Rolfing®“ hören. Die strukturellen und funktionellen Veränderungen können meines Erachtens den musikalischen Ausdruck verbessern helfen.

Auch wenn diese Unterschiede nicht nur bei Sänger*Innen wahrzunehmen waren, möchte ich mich exemplarisch meine Erfahrungen mit dieser Gruppe von Musiker*Innen beschränken.

Die Arbeit mit Sänger*Innen

Für Sänger*Innen stellt sich immer die Frage, wie der Körper als Instrument genutzt wird Der eigentliche Resonanzraum zur Erzeugung von Klang scheint relativ begrenzt zu sein. Im Wesentlichen also Kopf, viszeraler Anteil des Halses und HWS, sowie der obere Brustraum.  

Als Rolfer könnte man also annehmen, dass in diesem Fall Themen aus der 7. Sitzung im Vordergrund stehen.

Im Laufe der Jahre hat sich allerdings herausgestellt, dass gerade bei einer solch spezifischen Arbeit das Beachten der strukturellen und funktionellen Zusammenhänge des Gesamtorganismus besonders wichtig ist. Hierfür erweist sich die 10er Serie von Dr. Rolf als Orientierung und das Erlernen von strukturellen und funktionellen Zusammenhängen für die Sänger*innen als besonders hilfreich.

Dennoch möchte ich auf einige interessante anatomische Zusammenhänge hinweisen, die besonderes Augenmerk verdienen.

  1. Der vordere Halsraum (visceral neck):
    Der Resonanzraum einer Sängers*in ist von der Fähigkeit abhängig, den Kehlkopf möglichst tief einzustellen. Dies bezieht sich sowohl auf die physische als auch auf koordinative Struktur. Das heißt zum Beispiel für die Struktur in der Hyoidal-Muskulatur, dass zum einen die myofasziale Elastizität als auch die koordinativen Fähigkeiten über eine günstige Einstellung des Kehlkopfes mitentscheidend sind.

    Spannungen in allen Faszienschichten des Halses (Lamina superficialis, besonders aber Lamina praetrachealis und die praevertebrale Halsfaszie) können zur Verkleinerung des Resonanzraumes beitragen.

    Auf der funktionell-koordinativen Ebene sorgt ein aktiver M. longus colli für eine Reduktion phasischer Aktivität und damit auch für die Vergrößerung des Klangraumes beim Singen.

    Die reduzierte Aktivität von SCM und M. scaleni spielen gerade bei der Vorbereitung eines Tones eine wichtige Rolle. Je weniger diese Muskeln bei der Einatembewegung eingesetzt werden, um so mehr Resonanz bzw. Obertöne können entstehen.

  2. Der hintere Halsbereich (neural neck):
    Spannungen in den langhebeligen rückwärtigen phasischen Muskulatur haben natürlich bei der Organisation des Kopf- und HWS Bereiches eine tragende Rolle. Ein Ungleichgewicht in den Spannungsverhältnissen von Vorder – und Rückseite beeinflussen Flexibilität und damit Raum. Im Falle einer verstärkten HWS Lordose erscheint der vordere Halsbereich zwar „geöffnet“, gleichzeitig ist die Spannung in diesem Bereich als Reaktion auf die HWS-Stellung oft hoch.

    Ist die HWS dagegen „steil“ geht dies erst recht auf Kosten eines vorderen Klangraumes.

  3. TMG und Zunge:
    Wie sich der Resonanzraum nutzen lässt, wird nicht zuletzt durch die strukturellen Verhältnisse rund um das Kiefergelenk und den Zungenraum bestimmt.

    Die Flexibilität bei der Mundöffnung ist als Vorbereitung der Einatmung aber auch für die Text-Artikulation von großer Bedeutung. Strukturen wie der M. temporalis, M. masseter und buccinator sowie im Mundraum M. pterigoideus sind die dazu gehörigen myofaszialen Strukturen.

  4. Der Schultergürtel:

    Erwähnen möchte ich natürlich auch die vielfältigen Einflüsse des Schultergürtels auf die für die Erzeugung von Klang zur Verfügung stehenden Räume beim Singen. M. Trapezius, M. levator scapulae im hinteren Bereich und M. pectoralis maior, M. subclavius im vorderen Bereich sind relativ oberflächliche Strukturen, die hierbei eine Rolle spielen können. Aber auch Spannungen und koordinative Defizite der Rotatorenmanschette in Verbindung mit dem M.omohyoideus können beeinträchtigend auf den Resonanzraum wirken.

    Dies gilt vor allem für die Einleitung von Einatembewegungen: Man könnte auch sagen, dass eine erhöhte Aktivität oder Spannung die Räume verengt.

Das Beispiel ist eigentlich eine Überleitung zu den funktionellen Zusammenhängen, auf die ich kurz eingehen möchte.

Zusammenfassend kann man sagen, dass erhöhte Spannungszustände in den beschriebenen myofaszialen Strukturen den zur Verfügung stehenden Resonanzraum verringern. Dies beeinflusst die Klangfarbe und Klangfülle, die vor allem durch die Erzeugung von Obertönen erzeugt werden. Letztendlich werden die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt.  

Hier wird schon deutlich, dass auf der Ebene der Koordination der beteiligten lokalen physischen Strukturen natürlich der gesamte Körper beteiligt sind. Die übergeordnete Frage, was die Stimme von der Entfaltung ihrer innewohnenden Möglichkeiten abhält, tritt in den Vordergrund.  

Wir können die daraus resultierenden koordinativen Strukturen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten:

  1. Orientierung
    Hierbei geht es vor allem um die Verbindung von Raum- und Bodenorientierung. Diese Verbindung ist eine der Voraussetzung für eine unterstützende Aktivität aus anderen Bereichen.
     
  2. Corestabilität und tonische Funktion
    Das Modell des sogenannten posturalen Dreiecks – Sensorik der Füße, Augen und Vestibulum – fasst den Zusammenhang von Ausrichtung entlang der Schwerkraftlinie und tonischen Aktivität zusammen.

    Die Stabilität wird durch innere Strukturen (Core) gewährleistet, phasische Aktivitäten werden unterbunden, wodurch Resonanzräume  flexibel und adaptiv genutzt und verändert werden können.
     
  3. Aus dem Blickwinkel der zugrundeliegenden Rolfing-Prinzipien wird deutlich, dass ein musikalisch-spielerischer Umgang mit Stimme ohne Unterstützung/Support weder die Anpassungsfähigkeit/Adaptability noch eine wünschenswerte Spannkraft/Palintonicity nur eingeschränkt möglich ist. Aus musikalischer Sicht bedeutet dies eine Begrenzung des Ausdrucks – Das Ergebnis ist hörbar!

Für die Sänger*innen spielt dies natürlich eine besonders wichtige Rolle. Wie hört sich – beispielsweise - „meine“ Interpretation an? Die perceptive Struktur – um es mit den im Rolfing verwendeten Begriffen zu sagen – ist auf unterschiedliche Weise beteiligt.

  1. Das Hören spielt als Referenz für den Klang natürlich eine übergeordnete Rolle. Wie klingen beispielsweise unterschiedliche Varianten einer Phrase, eines Liedes etc.? Im Verlauf einer gesanglichen Entwicklung wird die Hörfähigkeit – z.B. bei der Intonation – auf natürliche Art und Weise geschult.

  2. Die Fähigkeit der Wahrnehmung von Spannungszuständen in verschiedenen Bereichen des Körpers schafft Verbindungen und erzeugt Bewusstsein für das Zusammenwirken unterschiedlicher Strukturen und Funktionen und deren Einfluss auf den Klang der Stimme.

  3. Dies führt zur Entwicklung von „Indikatoren“ zur Bestimmung sowohl des „Ist-Zustandes“ bezüglich Stimme und deren Verbindung zum gesamten Körper als auch der Wechselwirkung von inneren und äußeren Räumen (Körper und Umgebung)

Abschließend kann man vielleicht sagen, dass sich im Ergebnis das Gespür für den eigenen musikalischen Ausdruck verbessert. Das ergänzt gesangliche Fähigkeiten und kann möglicherweise zu mehr Freude am persönlichen Erforschen von neuen Möglichkeiten führen und alte weniger nützliche Konzepte über die Gestaltung des eigenen Gesanges (Körperbild) ersetzen.

Als Rolfer verwende ich den Begriff Psychobiologische Struktur (Bedeutungebene) – oder mit anderen Worten – alles macht Sinn!

Praktische Umsetzung für die Rolfing-Arbeit mit Musikern

Anamnese:

Für die Arbeit mit Musikern ist es besonders wichtig, gemeinsam eine Zielvorstellung zu formulieren, die im Rahmen einer 10er Serie realistisch erscheint. Dazu gehört auch, dass die Musiker*innen ein erweitertes Repertoire an Überprüfungsmöglichkeiten der Wirkungen entwickeln.

Konkret heißt das oft, dass körperliche Zusammenhänge wie das Zusammenwirken von Stimme und myofaszialen Spannungen individuell erfahrbar werden.

Vorgehen:

Innerhalb dieses Rahmens sind deshalb sich wiederholende - im weiteren Sinne standardisierte Abläufe - zur Überprüfung der Fortschritte wichtig. Dies führt dazu, dass neue Möglichkeiten besser integriert werden können.

Ein Beispiel: Die Vorbereitung einer Gesangsphrase steht in engem Zusammenhang zur Ausführung Einatembewegung. Aktivitäten im Schultergürtel und/oder Kieferbereich sind dabei wenig hilfreich. Im Bodyreading wäre dies sichtbar. Das sogenannte Premovement wäre hier der Indikator für diese Aktivität. Gründe können mangelnder „Support“ aus dem Bereich der unteren Extremität, weniger koordinierte und flexible Verbindung von „oben und unten“ durch das Becken u.a. sein. Die Stimme und unterschiedliche Klangvarianten können für die Sänger*innen Indikatoren sein, diese individuellen Zusammenhänge zu erspüren.

An dieser Stelle wird deutlich, dass im Verlauf einer Behandlungsserie das wiederholte funktionelle Arbeiten in Schwerkraft von großer Bedeutung ist. Dabei ist das Singen oder das Spielen des Instrumentes innerhalb einer Behandlung oft sehr hilfreich für die Umsetzung und Integration struktureller Veränderungen.

Autor: Certified Advanced Rolfer®, Rolf Movement™ Practitioner and Dr Ida Rolf Institute® Europe Faculty Member, Jörg Ahrend-Löns - Deutschland

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