Anatomie neu gedacht: Der Körper als Beziehung

Ein Gespräch mit Konrad Obermeier 

Was bedeutet es eigentlich, den menschlichen Körper wirklich zu verstehen? Für viele beginnt Anatomie beim Anatomieatlas: Muskeln, Knochen, lateinische Begriffe. Doch gerade für Menschen, die mit dem Körper arbeiten, reicht dieser Blick oft nicht aus. 

Konrad Obermeier, Rolfer® seit über 30 Jahren, Anatomielehrer am Dr. Ida Rolf Institute® Europe und Experte für Embryologie, verfolgt einen anderen Ansatz: Anatomie ist für ihn nicht nur Biologie, sondern eine lebendige Beziehung - zur Umwelt, zur Kultur, zur eigenen Geschichte. 

 

Der Körper in Schichten: Mehr als Biologie 

Die Grundlage der Anatomie ist zweifellos biologisch. Jeder, der mit dem Körper arbeitet, sollte die grundlegenden Strukturen kennen und ertasten können. Doch darüber hinaus, so betont Obermeier, tragen wir auch eine „kulturelle Anatomie“ in uns: Bewegungen und Haltungen sind geprägt durch kulturelle Normen, familiäre Einflüsse und individuelle Erfahrungen. 

Wer mit dem Körper arbeitet, berührt nie nur Biologie, sondern immer auch Kultur und Biografie.“ 

- Konrad Obermeier 

Wie wir mit unserem Körper umgehen, wie wir ihn gebrauchen und erleben - all das entsteht in einem Beziehungsfeld. Ob ein Kind Geige spielt oder ein Handwerker schwere Balken hebt: Beide entwickeln unterschiedliche, individuell geprägte anatomische Muster. 

 

Bewegung als Balance von Stabilität und Freiheit 

Eine zentrale Frage in der Rolfing® Arbeit ist: Wie viel Stabilität braucht der Körper, und wie viel Bewegungsfreiheit ist möglich? 

Ein Beispiel: Wenn ein Kind die ersten Schritte wagt, geht es nicht nur darum, was es bewegen muss, sondern vor allem, was es nicht bewegen darf, um die notwendige Stabilität zu finden. Erst durch diese bewusste Inhibition entsteht Freiheit in der Bewegung. 

Jede Bewegung basiert darauf, dass wir uns zur Schwerkraft in Beziehung setzen. Dazu braucht es Stabilisierung - und die Kunst ist, so viel Freiheit wie möglich und so viel Stabilität wie nötig gleichzeitig zu ermöglichen.“ 

- Konrad Obermeier 

Dieses feine Zusammenspiel ist grundlegend für ökonomische, mühelose Bewegung - egal ob beim Gehen, Tanzen oder im Alltag. 

 

Anatomie als Prozess: Lernen von der Embryologie 

Ein besonderes Augenmerk legt Obermeier auf die Embryologie. Sie zeigt den Körper nicht als fertige, starre Struktur, sondern als einen fortlaufenden Prozess, der in Beziehung zur Umwelt entsteht. 

In den ersten Wochen besteht der menschliche Embryo fast vollständig aus Flüssigkeit; erst durch Druck- und Zugkräfte formen sich Gewebe, Faszien und Knochen. Obermeier nennt das Embryo ein Template des Potenzials: Jeder erwachsene Körper trägt die Erinnerung an diesen formbaren Zustand in sich - und kann sich daher auch später noch reorganisieren. 

Struktur ist keine starre Architektur, sondern eine sehr langsame Bewegung, die von der Befruchtung bis ins Alter reicht.“ 

- Konrad Obermeier 

Vom ersten Moment an entwickelt sich der Körper im Dialog: mit der Mutter, mit dem eigenen Erleben, mit hormonellen und emotionalen Einflüssen. Diese ursprüngliche Fluidität erinnert uns daran, dass wir auch als Erwachsene nicht „fertig“ sind. Wir bleiben formbar, dynamisch, in Bewegung. 

 

Wahrnehmung als Schlüssel 

Ein oft unterschätzter Aspekt ist die Rolle der Wahrnehmung. Unsere Fähigkeit, uns selbst und die Umwelt sensorisch zu erfassen, bestimmt maßgeblich, wie wir uns bewegen und halten. 

Ob visuelle Orientierung, innere Empfindungen oder emotionale Reaktionen: Erst wenn die Wahrnehmung frei ist, kann auch die Bewegung ökonomisch und authentisch sein. Einschränkungen in der Sensorik, z.B. durch einen starren, fokussierten Blick, können den Bewegungsapparat blockieren - unabhängig davon, wie „stark“ oder „trainiert“ ein Muskel ist. 

Rolfing® Strukturelle Integration integriert deshalb zunehmend Werkzeuge, die das periphere Sehen, die Tiefensensibilität und das Körperbild erweitern. 

 

Rolfing® als Weg zur Autonomie 

Es ist nicht Ziel der Rolfing® Arbeit, eine ideale Haltung „aufzuzwingen“. Stattdessen geht es darum, Menschen darin zu unterstützen, mehr Freiheit und Autonomie in ihrem Körper zu erleben

Mehr bei sich ankommen, alte Bewegungsmuster erkennen, neue Räume erschließen - oder, wie Obermeier es beschreibt: 

Rolfing Strukturelle Integration kann helfen, näher nach Hause zu kommen.“ 

Dabei steht nicht die Korrektur im Vordergrund, sondern die Beziehung: zur Schwerkraft, zum Raum, zur eigenen Geschichte und zur Umwelt. Faszienarbeit wird dabei nicht als reine Spannungskorrektur verstanden, sondern als Arbeit mit Druck- und Zugkräften, bei der die ursprüngliche Fluidität immer mitschwingt. 

 

Fazit: Anatomie als Beziehung 

Anatomie ist mehr als das Auswendiglernen von Muskelursprüngen. Sie ist ein vielschichtiges Zusammenspiel aus Biologie, Kultur, Erfahrung und Wahrnehmung. Wenn wir Anatomie als lebendige, vielschichtige Beziehung begreifen, erweitern sich unsere therapeutischen und pädagogischen Möglichkeiten enorm.  

Die Beschäftigung mit Embryologie, Bewegungsentwicklung und Faszien eröffnet neue Perspektiven: auf den eigenen Körper, auf die Arbeit mit Klienten und auf das Leben als Prozess in ständiger Veränderung. Dies lebt Konrad Obermeier im Unterricht vor: Strukturelle Integration ist keine starre Technik, sondern ein dialogischer Prozess, der den Menschen in seiner ganzen Geschichte anspricht. 


Quelle: 

Dieser Blogartikel basiert auf einem Gespräch mit Konrad Obermeier. Das gesamte Interview ist als Audio im Podcast "Fluid Realities" von Anna Mischel und Stephanie Aimée Poole verfügbar.  

Interviewpartner: Konrad Obermeier, Certified Advanced Rolfer® and CE Workshop Teacher – Munich and Huldsessen, Germany  

Interview: Stephanie Aimée Poole  

Bearbeitung: Sabine Becker  


Konrad Obermeier’s website

Stephanie Aimée Poole’s Website  

Stephanie Aimée Poole’s Social Channels:LinkedIn, Instagram

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Die Inhalte dieses Blogartikels dienen ausschließlich der allgemeinen Information über Rolfing® Strukturelle Integration. Sie ersetzen keine medizinische Beratung, Diagnose oder Behandlung. Für gesundheitliche Anliegen wenden Sie sich bitte an qualifiziertes medizinisches Fachpersonal. Rolfing® und Rolfer® sind eingetragene Marken des Dr. Ida Rolf Institute® und seiner Partnerorganisationen. Ergebnisse und Erfahrungen mit Rolfing® können individuell variieren. Die Autoren übernehmen keine Haftung für Schäden oder Verluste, die durch die Anwendung der hier beschriebenen Inhalte entstehen.