Ein Interview mit Sportwissenschaftler und Certified Rolfer® Jakob Reichardt, München - Deutschland
In diesem Interview spricht Certified Rolfer® Stephanie Aimee Poole mit Jakob Reichardt über Myofaszien und die Verbindung zwischen Rolfing® Strukturelle Integration und Kraftsport. Neben seiner Praxisarbeit als Rolfer® war Jakob Reichardt als Athletiktrainer tätig und begeistert sich für Krafttraining und Kampfsport, insbesondere Boxen.
Jakob, wie bist du zum Boxen gekommen?
Ich war auf der Suche nach einer Sportart, die über den klassischen Kraftsport hinausgeht und eine stärkere koordinative Komponente beinhaltet. In meinem Stadtviertel gibt es ein renommiertes Boxgym, das Boxwerk in München, das einen hervorragenden Ruf genießt. Dort habe ich nicht nur selbst trainiert, sondern auch als Athletiktrainer gearbeitet.
Wie hat dich dein Weg zu Rolfing® Struktureller Integration geführt?
Mein erster Kontakt mit der Rolfing-Methode kam durch einen Freund zustande, der Rolfer ist. Er behandelte mich und meine sportlich aktiven Freunde nach Verletzungen. Dabei fiel uns auf, dass sich die Behandlungen von klassischen physiotherapeutischen Ansätzen unterschieden – insbesondere durch die Art der Berührung und den ganzheitlichen Ansatz. Während meines Sportstudiums wurde mir klar, dass mir die reine Theorie nicht ausreicht. Da ich Rolfing bereits aus eigener Erfahrung kannte und die myofaszialen Zusammenhänge im Bewegungskontext für mich viel Sinn ergaben, entschied ich mich für diese Ausbildung.
Könntest du kurz erklären, was mit myofaszialen Zusammenhängen gemeint ist?
Der Begriff setzt sich aus "Myo" (Muskel) und "Faszie" zusammen.
Muskulatur arbeitet nicht isoliert, sondern jede einzelne Muskelfaser ist in ein fasziales Netzwerk eingebunden, das über Muskeln und Gelenke hinausgeht und den gesamten Körper durchzieht.
Dieses Bindegewebe ist nicht nur mechanisch aktiv, sondern informiert auch unser Nervensystem über Spannungszustände. Daher spielen Faszien eine zentrale Rolle bei Bewegung und Stabilität.
Hat das fasziale System auch Einfluss auf Kraftsport oder Kampfsport?
Ja, definitiv. Das Faszien-System ist in jede Bewegung integriert – man kann es nicht nicht ansprechen. Der Muskel kann nicht ohne die Faszie und die Faszie auch nicht ohne den Muskel beziehungsweise all die anderen Strukturen, die mit eingebettet sind, funktionieren. Da reden wir z.B. von neurovaskulären Bündeln, also Arterien, Venen, Nerven, die in faszialen Bündeln organisiert sind.
Die Frage ist vielmehr, wie wir das Faszien-System gezielt in Training und Sport einbeziehen können. Faszien haben spezifische mechanische und sensorische Eigenschaften, die für Kraftsportler und Athleten von Vorteil sind. Ein fundiertes Verständnis dieser Zusammenhänge kann dazu beitragen, Training effizienter zu gestalten und Verletzungen vorzubeugen.
Sollte jeder Mensch Kraftsport betreiben? Warum ist Krafttraining so wichtig?
Studien zeigen, dass der altersbedingte Muskelabbau – die sogenannte Sarkopenie – erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Der Verlust von Muskelmasse führt zu einem höheren Risiko für Krankheiten, eingeschränkter Mobilität und einer verringerten Lebenserwartung. Muskulatur ist nicht nur für Bewegung zuständig, sondern ist im Verbund mit der Faszie auch ein wichtiges Stoffwechselorgan. Regelmäßiges Krafttraining kann daher die Lebensqualität im Alter erheblich verbessern.
Welche Rolle spielt gezieltes Rückentraining bei Rückenschmerzen?
Zunächst einmal ist es wichtig, die Person individuell zu betrachten. Besonders bei Schmerzpatienten schaue ich mir genau an: Wo kommt dieser Mensch her? In welchem Umfeld bewegt er sich? Dazu gehören Aspekte wie Arbeit, Alltagsgewohnheiten und Bewegungsmuster. Das ist mein erster Ansatzpunkt.
Viele Menschen profitieren bereits davon, wenn ich eine bestimmte Struktur löse und dadurch eine Entspannung im Körper erzeuge. Aber das gilt nicht für alle – und nicht jede Struktur oder Muskulatur ist überhaupt darauf ausgelegt, einen großen Bewegungsumfang zu haben. Es gibt nämlich strukturelle Unterschiede, die man berücksichtigen muss. Wenn man sich beispielsweise den Verlauf der Muskelfasern anschaut, sieht man, dass bestimmte Muskelgruppen über die Faszien mit anderen verbunden sind. Dadurch ergibt sich oft ein komplexeres Bild, als es auf den ersten Blick scheint.
Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, pauschal zu sagen: „Die Oberschenkelrückseite muss erstmal gelockert werden.“ Jede manualtherapeutische Methode hat zwar ihre eigenen Konzepte und Begründungen dafür, warum sie bestimmte Dinge tut – das gilt auch für uns Rolfer. Und in jeder dieser Herangehensweisen steckt ein Stück Wahrheit. Aber entscheidend ist immer, wie sie in das individuelle Gesamtbild passt.
Gerade beim Thema Rückenschmerz zeigt sich das deutlich. Im ersten Moment profitieren viele Menschen davon, dass wir eine gewisse Grundstabilität im Körper wiederherstellen. Viele Therapeuten erleben in ihrer Arbeit immer wieder Klienten, die von ihrer Grundspannung her eher schlaff sind. In solchen Fällen kann es tatsächlich hilfreich sein, wenn sie morgens mit ein paar Liegestützen beginnen – einfach um dem Körper eine Grundspannung zu geben.
Nehmen wir jemanden mit Rückenschmerzen, der insgesamt einen eher lockeren Tonus hat. Was er als „Verspannung“ wahrnimmt, ist oft gar keine echte Muskelanspannung, sondern eher ein kompensatorischer Spasmus – eine Art Notlösung des Körpers, um sich künstlich Stabilität zu verschaffen. Sein System schafft es nicht, diese Stabilität aus dem gesamten Bewegungsapparat heraus bereitzustellen. Dann kann es passieren, dass sich beispielsweise die Lendenwirbelsäule, die eigentlich gar nicht ständig belastet werden will, diese Stabilität selbst sucht – vermittelt durch das Nervensystem. Und genau dann entstehen Schmerzen.
Das heißt, anstatt ein standardisiertes Rückentrainingsprogramm zu wählen, sollte man zuerst die eigene Körperstruktur und Bewegungsgewohnheiten analysieren – und sich fragen: Was will ich mit diesem Training überhaupt erreichen?
Absolut.
Der große Vorteil im Rolfing ist, dass wir individuell mit unseren Klienten arbeiten und uns wirklich Zeit für sie nehmen.
Unsere Sitzungen dauern oft 60 bis 75 Minuten, in denen wir gezielt auf den Einzelnen eingehen.
Das Spannende ist: Die Struktur selbst gibt uns Hinweise darauf, was sie braucht. Während der Behandlung auf der Liege spüre ich mit den Händen, wo der Körper Zug aufbaut, wo es Wärmeunterschiede gibt – all das sind Signale, die mir zeigen, wo Unterstützung erforderlich ist. Das kann manchmal überraschend sein: Ein Klient kommt mit Hüftproblemen, aber die eigentliche Blockade zeigt sich im Sprunggelenk.
Und genau das ist der Punkt: Nach der manuellen Arbeit auf der Liege geht es darum zu überlegen, welche Bewegungsimpulse dieser Mensch nun in seinen Alltag integrieren sollte.
Denn wenn wir die neu gewonnene Beweglichkeit nicht nutzen, fällt der Körper oft wieder in alte Muster zurück.
Was empfiehlst du Menschen, die mit Kraftsport beginnen möchten?
Wichtig ist, sich bewusst zu machen, warum man mit Krafttraining beginnt und welche Ziele man verfolgt. Sportler sollten überlegen, wie sie Krafttraining gezielt für ihre Sportart nutzen können. Aber auch Menschen mit körperlich anstrengenden Berufen oder Schmerzen können davon profitieren.
Für Einsteiger empfehle ich, sich zumindest gelegentlich von einem kompetenten Trainer unterstützen zu lassen, um die Technik sauber zu erlernen. Ein Gym mit freien Gewichten ist oft besser als eines mit ausschließlich Maschinen, da es mehr Bewegungsfreiheit erlaubt.
Quelle:
Dieses Interview ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit Jakob Reichardt über Rolfing® und Kraftsport. Das gesamte Interview ist als Audio im Podcast "Fluid Realities" von Anna Mischel und Stephanie Aimée Poole verfügbar.
Interviewpartner: Jakob Reichardt, Certified Rolfer® und Sportwissenschaftler - München, Deutschland
Interview: Stephanie Aimée Poole
Bearbeitung: Sabine Becker
Fotos: Copyright © Jakob Reichardt, Markus Mischek und Stefanos
Jakob Reichardts Website
Stephanie Aimée Poole’s Website
Stephanie Aimée Poole’s Social Channels: LinkedIn, Instagram.
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